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2. Etappe Roccabruna – Pagliero
Trockne Mauern und kühle Wasser

Trotz aller widrigen Umstände gut ausgeschlafen, nach einem für italienische Verhältnisse üppigen Frühstück – folienverschweißte Cornetti, Kekse und Zwieback mit Marmelade – starten wir unsere zweite Etappe. Heute brennt die Sonne nicht mehr so gnadenlos vom Himmel wie am Tag zuvor, ein paar Wölkchen sorgen für eine willkommene Kühle. Am Brunnen an der Piazza von Roccabruna wird fröhlich schwatzend Wasser gefaßt. Gut zu wissen, daß die heutige Wanderung mit nur knapp drei Stunden nicht allzuviel Schweiß kosten wird! Schon nach wenigen Wandermetern erreicht uns eine eilige SMS aus Norwegen: Christel und Wolfgang grüßen vom Nordkap. „Wie geht es euch Wanderern?“ „Es könnte uns nicht besser gehen!“ Stets im gemütlichen Auf und Ab durch dichten, grünen Wald erreichen wir alsbald die kleine Kapelle San Chiaffredo. Diesem reizenden Ort können wir nicht widerstehen und legen bereits die erste Rast ein. Die Stimmung unter den WanderInnen ist bestens und in gelassener, wohliger Ruhe entspinnt sich alsbald eine anregende Plauderei über aktuelle und nicht mehr so aktuelle SchauspielerInnen und SchlagersängerInnen: „Nimm Romy Schneider – so tolle Schauspielerinnen gibt es doch heute gar nicht mehr!“ „Männer werden mit zunehmenden Alter immer interessanter, denk mal an Sean Connery oder wie heißt nochmal der, der damals Winnetou gespielt hat?“ „Du meinst ..., ach wie heißt der denn nun? War der nicht sogar mit der Romy Schneider verheiratet?“ „Alain Délon“ – „Genau der!“
Nadja und Jürgen
Der weitere Weg führt uns heute zum ersten Mal durch verlassene Weiler, an aufgegebenen Gehöften, verfallenen Scheunen und mit verwelkten Blumen „geschmückten“ Bildstöcken vorbei – Zeugnisse einer längst vergangenen bäuerlichen Kulturlandschaft. Einst in aufwendiger Arbeit und kunstfertig angelegte Trockenmauern säumen unseren Weg, der auch schon mal zum Bächlein wird, das wir im Entenmarsch durchwaten. Erneut gelangen wir an einen Weiler, der zwar ganz verlassen, aber ganz und gar nicht verfallen ist: Mostiala. Die alten Gemäuer sind aufwendig restauriert, die Farben des Freskos im Bildstock scheinen noch feucht zu sein – doch wir treffen nur auf einen alten Mann, der in einer großen Flasche am Brunnen Wasser fürs Mittagsmahl holt. „Buon giorno!“ Sicher rasten viele Maira-Wanderer hier. Die „Bewohner“ des Ortes sind nur am Wochenende und in der Ferienzeit hier, in der übrigen Zeit leben und arbeiten sie unten in der Ebene. Es scheint hier wie im übrigen Tal, daß einzig der „Wochenendtourismus“ dem endgültigen Verfall vorbeugen kann. Weiter geht’s!
Stilleben
Wir tauchen wieder ins üppige Grün. Der Wald lichtet sich schließlich und wir können unser Etappenziel Pagliero uns gegenüberliegend in der Ferne ausmachen. Wenig später und einige Höhenmeter tiefer scheint die bäuerliche Welt noch (fast!) in Ordnung. Hier ist die Zeit stehengeblieben: Die Häuser sind in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten worden, nicht „schönrenoviert“ wie die Wochenend-Ferien-Häuser in Mostiola. Der Weiler Molineri di Pagliero hat nichts von der Verlassenheit der Orte, an denen wir noch kurz zuvor vorbeigewandert sind: Geranien wachsen üppig in allen möglichen Behältnissen, Wäsche hängt auf der Leine, Satellitenschüsseln zieren die mit grauen Natur-Schieferplatten gedeckten Häuser. Ein stolzer Hahn gebietet über eine Schar gackernder Hennen und verweigert sich beharrlich als Fotosujet, indem er uns sein Hinterteil zuwendet. Allerlei modernes Arbeitsgerät zeugt von lebendiger Landwirtschaft, und tatsächlich treffen wir auf dem Weg ins Tal zwei Männer beim Heuen. Sie grüßen uns von weitem – so viele Wanderer auf einmal kommen wohl nicht so häufig daher!
Es ist noch früh am Nachmittag und unser Ziel nicht mehr fern. Wie geschaffen für eine Rast scheinen da der kristallklare rauschende Bach und die grüne Wiese. Das eiskalte Wasser ist eine herrliche Erfrischung für unsere dampfenden Füße. Nach kurzem Überlegen entscheidet sich Jürgen sogar für ein Vollbad!
Angelika, Karin und JürgenJürgen
Der Proviant wird ausgepackt und Brot, Käse, Salami und Obst schmecken in dieser Umgebung köstlich. Recht hatte die Bäckerin in Dronero, die da sagte: „In montagna il pane è ancora più buono!“* Derart physisch und mental gestärkt sind die letzten Höhenmeter auf der Fahrstraße hinauf nach Pagliero kaum noch anstrengend. Der Ort ist wenig einladend, das PT so kühl und nüchtern wie das Wirtspaar des „Belvedere“ (ursprünglich „Velbedere“, zu deutsch „Ranopama“). Das Interieur des Ristorante hat dreißig Jahre unbeschadet überstanden und erinnert an alte italienische Filme aus den Fünfzigern („Wie hieß nochmal die Schauspielerin in La Strada?“). Das Essen ist ausgesprochen üppig (zum Glück werden keine Antipasti angeboten, Formaggio und Dolce können wir abwenden), hausgemacht und entsprechend gut:

PrimoLasagne
Secondo

Faraona con Spinaci (Rebhuhn mit Spinat)
Cinghiale con Polenta (Wildschwein)
ContorniSpinaci

Ankunfti in Pagliero
Nach dem Essen taut sogar das Wirtspaar etwas auf und beide lassen sich auf eine kleine Chiacchierata (Schwätzchen) mit Angelika, Nadja, Karin und Norbert ein. Die übrigen Männer stehen derweil in der Küche am Fernseher und verfolgen eine Partita der Europameisterschaften.

Heute gibt es noch eine kleine Anekdote anzumerken: Wie jeden Abend rufe ich beim nächsten PT an, um unsere Gruppe zu avisieren. So auch heute. Es meldet sich eine weibliche Stimme am anderen Ende: „Pronto!“ Als ich das Essen für acht Personen bestelle unterbricht sie mich und sagt, sie könne uns leider morgen kein Abendessen kochen, sie sei krank. Ich drücke mein tiefstes Bedauern über ihren Zustand aus und frage sie, ob es denn eine andere Möglichkeit gebe. Nein, es täte ihr leid. Aber wir sind doch den ganzen Tag gewandert, haben entsprechend Hunger, vielleicht wenigstens etwas Brot und Käse, bitte ich. Nein, Signora bedauert, sie sei über achtzig Jahre alt und könne nicht mehr laufen. Da dämmert mir langsam, dass ich vielleicht eine falsche Nummer gewählt haben könnte. Ich frage sie daraufhin, ob sie die Wirtin des „Cavallo Bianco“ in Macra sei. Aber nein, sicher nicht, wie gesagt, sie kann uns leider nichts kochen. Ich entschuldige mich höflichst und wünsche der alten Dame gute Besserung. Wir fragen uns anschließend, was sie getan hätte, wenn sie nicht krank gewesen wäre?


* In den Bergen schmeckt das Brot noch mal so gut!

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karin@simon-schellhaas.de