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6. Etappe Elva Serre (Clari) - Ussolo
Unser Weg ist „weg“! oder Zwischen Erdrutsch und Halbfinale
Vor dieser Etappe – einer der längsten der Tour – haben alle etwas Respekt. Höchst konzentriert gehen wir ans Werk. Der Start gelingt nach einem üppigen Frühstück im Artesin problemlos. Doch schon nach wenigen Metern erwartet uns das erste Hindernis: Das Unwetter Anfang Juni hat das Bachbett der Elva verdreifacht und enorme Erdrutsche ausgelöst. Unser Weg ist „weg“! Norbert findet die rot-weiße GTA-Route, Peter mit pfadfinderischem Gespür Reste der gelben Markierung des Mairawegs in entgegengesetzter Richtung – nach kurzem Hin und Her folgen wir Peters Spürnase – er soll Recht behalten. Allerdings folgt nun Hindernis an Hindernis. Kleine Rinnsale müssen während des Unwetters wahre Sturzbäche geworden sein. Oft ist der Mairaweg unterbrochen, weil abgerutscht. Wir stehen auf lockeren Schollen am Bachübergang und warten – etwas beunruhigt ob des losen Bodens – auf Fortschritt. Erst als wir das Tal wechseln werden die Schäden geringer, der Weg wieder schneller. Dem Aufstieg folgt ein Abstieg. Hier treffen wir den freundlichen Kuhhirten, der den Weg der GTA gegangen ist. (Wäre also auch möglich, dafür sicher weniger abenteuerlich gewesen! Anm. K.S.)
Beeindruckend ist die Vielfalt an Blumen: Bunteste Blumenwiesen, große Alpenrosenfelder, Orchideen, wilde Rosen und unzählig vieles, was wir nicht benennen könnten. Nach den fünfhundert Höhenmetern Aufstieg steigen wir wieder hinab in das Valle San Michele – bis in den tiefsten Grund. Beim erneuten Aufstieg treffen wir auf einen träge am Weg liegenden Hund. Er hebt kurz den Kopf – es ist Mittag – kein Bellen erklingt. Wir wundern uns – er senkt den Kopf. Offensichtlich hält er Siesta – Bellen erst wieder ab 14 Uhr. Beim weiteren Aufstieg begegnen uns drei andere vierbeinige Gesellen – keiner bellt. „San Michele, das Tal der schweigsamen Hunde“, denke ich.
Bei der mittäglichen Rast werden auch die Menschen schweigsamen und sprichwörtlich zu Wegelagerern. Oft lassen wir uns einfach zur Rast mitten auf dem Weg nieder. Nie müssen wir aufstehen, um für andere Wanderer den Weg frei zu machen.
Der Reiseführer titelt diese Etappe: „Auf und ab, auf und ab“. Er behält recht. Rechtschaffen erschöpft gelangen wir nach Ussolo. Auf der Piazza: alter Mann mit jungem Hund. Frage nach dem PT – er weiß den Weg. Das Entrée ist der Schocker, ein feuchtkalter Vorraum mit bröckelndem Putz. Oben empfangen uns zwei ältere Herrschaften: sonnengebräunte Haut, GTA erprobte Wanderer. Sie Französin, 56, Er, 72, Schwabe und Tierarzt. Sehr nette Leute, die uns vielleicht eine Vision von der Partnerschaft im Alter geben können – „Nicht wahr, mon chérie?“
Tags zuvor hatten wir beim Padrone des PT Ussolo telefonisch Lebensmittel geordert, um ein angemessenes Mahl zubereiten zu können. Dies ist ein extra Service, weil es vor Ort keine Versorgungsmöglichkeit gibt. Peter, Jürgen und Volker bereiten ein dreigängiges Menü: „Insalata di pommodori al Pietro“ eröffnet den Reigen. Es folgt eine „Pasta pommodoro al Volker“. Zum Dessert werden Köse und Obst gereicht.
Kerzenschein und Rosen auf dem Tisch erwärmen die Seelen der Frauen, die des Lobes voll sind. Als die Pasta gereicht wird, das einzige Mißgeschick: der Parmesankäse schmeckt nach Schrank – zwei Portionen gehen in den Müll – den Hund von mon cherie freut es später.
Höhepunkt des Tages: das Halbfinale Italien – Holland. Wie anschauen, in einem gottverlassenen Nest, PT ohne TV und null Beziehungen? Peter, Jürgen und Volker ziehen Pinnchen. Die beiden letzteren trifft es. Sie stehen in der leeren Küche der Signora – der Hausherr taucht auf, rotweinbeseelt. Wir finden uns am Küchentisch wieder. Drei Gläser auf dem Tisch, Kontakt aufbauen, den geheimen Auftrag im Hintersinn. „Stefano“ „Jürgen“ „Jurgen?“ „Giorgio“ – er lächelt befreit. „Volker“ Er paßt, ich auch. Egal. Die Signora kommt, rüffelt kurz Stefano und ist freundlich. „Signora, nous avons due problemas: 1. Kaffee“ – Sie strahlt. Ein Paket Lavazza steht auf dem Tisch. „2. Football Italia-Holland – TV“ Sie grinst gequält, stimmt zu. Triumph! 20:45 kündigen wir uns an. „Arrivederci, grazie!“ – Rückkehr pünktlich – man ißt noch Kartoffeln mit Ei. Egal, hier können wir keine falsche Rücksicht nehmen. Rai uno ... Werbung ... TV2 ... Abspann, jubilierende Fans in Italien. Ich glaube, unsere dummen Gesichter wären ein Foto wert gewesen. Die Lösung des Rätsels: Das Spiel begann bereits um 19 Uhr. Alles vorbei. Große Erleichterung bei Signora und Sohn. Enttäuschung bei Stefano, der sich an Angelika erwärmte. Peter schreitet scherzhaft ein: „Ma femme!“ Er setzt sich wieder an den Teller – halbherzig. Signora spendiert überglücklich einen Wein, dann ab! Großes Hallo – das schnellste Halbfinale aller Zeiten dauerte 15 Minuten!
Susanna hat inzwischen mon cherie und seine charmante Gefährtin zum Reden gebracht. Sie kennt die Geschichte ihrer fünf und drei Kinder, Krankheitsgeschichte und Lebensphilosophie. Ein netter Abend im „Posto Usselig“ – gute Nacht! (V.K.)
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karin@simon-schellhaas.de